Andreas Pavlic

tritt fürs Aufräumen der Geschichte ein 

In seinem Roman-Debüt „Die Erinnerten“ (Atelier 2021) nimmt uns Andreas Pavlic mit ins Innsbruck der 1930er und 40er Jahre. Von der Höttinger Saalschlacht 1932 bis zum Kriegsende 1945 sind wir ganz nah dran am Leben von Annemarie und Johann. Wir erleben einen Charly-Gaudriot-Konzertabend mit ihnen, tanzen eine Silvesternacht durch; wir sind dabei, wie die große Arbeitslosigkeit über das Land hereinbricht, wie aus glühenden Sozialist*innen notgedrungen Den-Nationalsozialismus-Überlebenwollende werden; wir schauen ihnen dabei über die Schulter, wie sie versuchen, den Anschluss an die neue Zeit nicht zu versäumen, überstehen mit ihnen Zeiten im Lazarett und im Luftschutzkeller und freuen uns, dass sie schließlich zu Widerstandskämpfer*innen werden, ohne Held*innen sein zu wollen. Annemarie und Johann stehen stellvertretend für viele, die zwangsläufig Teil des herrschenden Systems wurden. In einer Zeit, in der eine Fehlentscheidung genügte, um für immer aus dem Leben gerissen zu werden. „Die Erinnerten“ besticht durch eine Fülle von  historischen Details, die wir so noch nie gelesen haben. Da erfahren wir von der Kartoffelkäferinvasion und den Maßnahmen dagegen; da tauchen graue Glücksmänner mit Winterhilfswerklosen auf; da stürzt die Bergisel-Holz-Skisprung-Schanze ein; da werden Trachten generalstabsmäßig entworfen und da macht eine Liste der „Ballastexistenzen“ die Runde am Arbeitsplatz von Annemarie, der Heil- und Pflegeanstalt in Hall. Annemarie macht die Erfahrung, wie fatal es sein kann, nicht wissen zu wollen, was wirklich passiert, nicht nachzufragen, nur die Arbeit zu verrichten. Der Erzähler zeigt auf, er verurteilt nicht, hat großes Verständnis für Schicksale in dieser Zeit. „Die Erinnerten“ macht klar, dass es Möglichkeiten gab, sich anders zu verhalten; es macht ebenso klar, dass nicht alle die Entscheidungskraft dazu hatten und es führt eindrücklich vor Augen, wie wichtig es für alle ist, so bald wie möglich mit dem Aufräumen der eigenen Geschichte anzufangen. Der Roman ist engagierte Literatur im besten Sinn. Hier wird nicht mit dem moralischen Zeigefinger herumgefuchtelt, hier werden wir an der Hand genommen und durch eine Lebensgeschichte geführt. Wir kriegen eine Geschichte erzählt, die berührt und gelesen gehört. 

(köma)

Andreas Pavlic liest am Donnerstag, den 7. April 2022 in der Stadtbibliothek Innsbruck.